Die Monitorauflösung auf historische 1024 x 768 px stellen, Ton aufdrehen und los geht’s! Diese interaktive Web-Anwendung entstand im Jahr 2002 als Diplomarbeit von Nicola Bernhart an der Schule für Gestaltung Ravensburg. Sie wurde 2003 mit dem ’red dot – best of the best’ ausgezeichnet und ist auch heute noch gleichzeitig lehrreich und unterhaltsam. www.polyphonica.de
2012 01 22
Buchwert
Ein Medium, das von sich aus und ganz ohne Elektronik so viele, schnelle und individuelle Zugangsmöglichkeiten bietet, das sowohl linear rezipiert werden kann, sich aber auch durch intuitive Navigation (= Blättern) erschließen lässt, das sowohl analoge Gleichzeitigkeit als auch rein semantisch schon Narrativität vermittelt, und zwar unvermittelt, das von seiner Objekthaftigkeit, seiner Materialität, seinen sinnfälligen, sinnvollen und sinnesreizenden Oberflächen, den subtil optimierten und vom Leser und Betrachter unmerklich laufend anpassbaren Wahrnehmungsbedingungen und schließlich aus der Lässigkeit selbstverständlicher Informationsdarbietung heraus seine kommunikative Überlegenheit bisher immer behaupten konnte, scheint nun doch in vielen Bereichen langsam von digitalen Medien verdrängt zu werden. Wird es das Buch bald nur noch als Randerscheinung geben, so wie die gute alte LP im Bereich der Musikkonserve? Das kann man momentan noch nicht endgültig beantworten. Hier ein paar lose aneinander gereihte Aspekte zum Thema Buch, aus Gestaltersicht.
2012 01 22
Buchwert
Überkommene Werte – Tradition vs. Funktion
Buchgestaltung ist eine durch und durch von Traditionen bestimmte Tätigkeit, Bücher sind kulturhistorisch schwer belastete Artefakte. Würden Bücher ganz auf ihre Funktionalität hin reduziert, so würde man – äußerlich – über die Form des auch schon historischen Taschenbuchs und die des digitalen Readers ganz schnell beim seit zig Jahren diskutierten und noch immer nicht realisierten Electronic Paper landen. Im ’Innenleben’ – oder wohl besser dann ’Content’ – wären die buchtypischen seltsam breitrandigen Satzspiegel, zu lange Zeilen, Blocksatz oder die Verwendung von Serifenschriften unter dem Gesichtspunkt der effektiven Informationsvermittlung obsolet. Bücher tragen aber ganz entgegen dieser kommunikationsfunktionalen und wahrnehmungsspezifischen Optimierungsmöglichkeiten in ihrer eigentlichen heutigen Erscheinungsform noch unendlich viel Traditionelles und eine Menge damit verbundener Wertvorstellungen mit sich.
Uralte, redundante Codes
Schon unsere Schriftcodes selbst sind eine wilde und redundante Mischung aus über 2000 Jahre alter römischer Capitalis Monumentalis (unsere Großbuchstaben) und 1200 Jahre alter karolingischer Minuskel (unsere Kleinbuchstaben), ergänzt durch die eigentlich völlig fremde, aus dem indischen (und über den arabischen eingebrachten) Kulturkreis stammende Ziffernwelt; sie war der statischen römischen Zahlensystematik, die eigentlich in unserem Kulturkreis noch gültig sein müsste, deutlich überlegen und hat sie deshalb abgelöst. Den Code-Satz der Großbuchstaben könnte man dabei problemlos ganz weglassen, somit die Syntax auf einen Schlag fast halbieren und im Sinne der Kommunikationstheorie optimieren. Auf der Strecke bliebe aber gerade der Luxus und der daraus resultierende Charme der verschwenderischen Redundanz unseres zentralen und ureigenen Kommunikationsmittels Schrift.
Antiker Satzbaukasten
Die für Bücher zum Lesen scheinbar unvermeidlichen Serifenschriften stammen in ihren Grundformen aus der Renaissance, dem Barock und dem Klassizismus. Diese Schrifttypen entwickelten sich aus den ersten Satzschriften, die – wegen fehlender syntaktischer Mittel für die neue Technologie des Handsatzes – Kopien der Lettern mittelalterlicher Handschriften waren. Auch der Blocksatz, der dem Lesefluss durch das Erschweren des Auffindens der neuen Zeile entgegensteht und sich durch das notwendige Austreiben formal immer negativ auf die eigentliche Typografiequalität auswirkt, hat seinen Ursprung in der ’gottgefälligen Form’ der Handschriften mittelalterlicher Klöster. Der Siegeszug der Serife – es ist ja eigentlich der quer gesetzte Abschlussschlag des Meißels beim Schlagen der Capitalis in Stein, um saubere Enden der vertikalen und horizontalen Riefen zu bekommen – mutet hierbei als ästhetischer Treppenwitz der Typografie-Geschichte an: die zufällig erzeugte ’Überschärfe’ der Buchstabenformen durch Serifen wird – quer über alle Jahrtausende und in völlig anderen Medien und Materialien – heute immer noch als besonders positiver Aspekt für die sogenannte Lesbarkeit von Schriften angeführt, nur inzwischen nicht mehr als Relief in Stein gehauen, sondern schwarz gedruckt auf Papier.
Rückwärts lesen
Wer heute einen Roman von der aktuellen Bestsellerliste oder z.B. ein Fachbuch über neueste Technologien liest, benutzt zu diesem Zweck also ein Medium, dessen Form und Funktion mehr von antiken, mittelalterlichen und früh-neuzeitlichen Überlieferungen und ihrer Ästhetik geprägt sind als von den modernen Inhalten selbst oder von – den heutlgen Rezeptionskontexten adäquaten – kommunikationstheoretischen oder designpraktischen Aspekten. Das Medium Buch steht nach mehreren technologischen, kulturellen und gesellschaftlichen Paradigmenwechseln heute der mittelalterlichen Klosterhandschrift formalästhetisch immer noch deutlich näher als zeitgemäßem Kommunikationsdesign. Selbst in den 1920er-Jahren waren wir mit der ’aufgeklärten’ Bauhaus-Typografie schon sehr viel weiter. Auch die sogenannte Buchausstattung, also das, was ein ’richtiges Buch’ ausmacht – der harte Buchdeckel, Leinen- oder Papierbezug, Titel-/Rückenprägung, Schutzumschlag, Fadenheftung des Buchblocks, Einhängen in den Vorsatz, Kapital- und Lesebändchen, Titelei etc. – ist nicht unbedingt Bedingung für funktionierendes und befriedigendes Wahrnehmen und Lesen. Im broschierten Softcover-Band mit PUR-Klebebindung, im billigen Taschenbuch oder im Reader liest man doch: genau das Gleiche. Warum also das ganze teure und alte Blendwerk?
Transferwert
Man muss das alles nicht ändern oder ganz weglassen. Aber als Gestalter sollte man die Traditionen genau kennen und sie bewusst einsetzen oder, eben, genau so bewusst negieren. Es gibt ja auch gute Gründe, warum Bücher phänomenologisch im Prinzip noch genau so aussehen wie vor Hunderten von Jahren. Das hat auch etwas zu tun mit dem Weitergeben von Werten, mit der Beziehung von Inhalt und Form und ihrer gegenseitigen Aufwertung; und mit einer besonderen Charaktereigenschaft der Käufer und Besitzer von Büchern: der Eitelkeit, die im Mehrwertstreben der Verlage ihr profanes Gegenüber gefunden hat. Das gebundene Buch hat Wert, ist ein Wert, feiert als Repräsentationsobjekt seinen Besitzer und Leser und ist so vorzeigbarer und auch vererbbarer Kulturträger. Und ein beliebtes Geschenk, weil es zum eigentlichen Warenwert, der durch die ’nutzlose’ historische Form des gebundenen Buchs künstlich erhöht wird, einen viel größeren immateriellen, eventuell auch kulturellen Wert transportiert. Es ist ein Geschenk im Geschenk, das nach dem Auspacken noch ein zweites Mal ausgepackt werden will, über das Lesen. Sich sonst aber notfalls auch ungelesen im Bücherbord hübsch macht und seinen Besitzer schmückt.
Nutzwert
Die Vorzüge, vor allem die unmittelbare und intuitive Zugänglichkeit von Büchern – man muss nichts einschalten, hochfahren, hochladen, softwaremäßig starten – wurden in der Einleitung schon beschrieben. Neben den bisher unerreichten praktischen (und einfach auch ergonomisch perfekten) Eigenschaften des Objekts selbst sind es die Feinheiten der ’Benutzeroberfläche’, welche immer noch die besondere Qualität und den Nutzwert ausmachen, zum Beispiel: der gute Kontrast der nicht ganz schwarzen Druckfarbe zum nicht ganz weißen Papier, die innigen Verbindung der Druckfarbe mit der Papieroberfläche durch den Offsetdruck (im früheren Hochdruck war das noch intensiver) und der dadurch evozierte Eindruck einer formalen Entität von Text und Untergrund, die lebendige und zigfach lichtbrechende, raue und dadurch weich wirkende Papieroberfläche, die leicht gebogenen Buchseiten mit ihren sanften Licht- und Schattenverläufen, die warme Haptik des Papiers, die subtilen Navigationshilfen wie Seitenzahlen, Inhaltsverzeichnis, Kapitel- und Kolumnentitel … Alles Attribute, die das Lesen so, wie wir es gelernt haben und wie es sich aus wahrnehmungsphysiologischer Sicht wohl als optimal darstellt, in bestem Maße fördern, wenn auch oft nur konnotativ. Noch kein anderes Medium kann das derzeit in dieser Qualität leisten.
Lesen oder Wahrnehmen
Wenn etwas wirklich interessiert, dann lesen wir es, egal wie es gestaltet ist und in welchem Medium unter welchen Umständen. Ist der Inhalt uninteressant, kann es noch so perfekt gestaltet sein, es bleibt ungelesen. Unsere Schrift ist ein sehr robustes, überscharfes und übercodiertes System, das deshalb unter auch sehr schlechten Bedingungen noch gut funktioniert. Deshalb müsste man Typografie und Buchgestaltung eigentlich nicht so wichtig nehmen und ganz weit unten ansiedeln. Als Typograf weiß man ja: entweder wird gelesen oder die Form des zu Lesenden wahrgenommen; beides gleichzeitig geht nicht – Wer liest, sieht nichts, und wer etwas anschaut, kann dabei nicht lesen. Beim Lesen wird die Form also nicht bewusst wahrgenommen; nur, wenn der Lesefluss durch grobe Fehler der Gestaltung gebremst wird, könnte es sein, dass man auf Dauer die Lust am Lesen verliert. Buchgestaltung ist also vor allem Gestaltung für die konnotative Wahrnehmung. Andererseits motiviert ein gut gestaltetes Buch zum Lesen – und vorher – zum Kauf (ein eigenes Thema wäre in diesem Zusammenhang die Titelgestaltung, vor allem die Auswahl der Titelabbildungen und ihre Gesetzmäßigkeiten …).
Linearität und Präzision
Für zwei Grundtypen von Buchpublikationen sieht die Zukunft nicht so gut aus: zum einen für rein linear zu rezipierende Inhalte, also vor allem in der Belletristik, die sich gerade über das Medium Reader/Tablet neue und erfolgsversprechende Vertriebskanäle erschließt, und für eindeutig wissenschaftlich orientierte Publikationen, die in digitalen und webgestützten Formen und den dadurch möglichen Vernetzungen und Verlinkungen ihre komplexere und gleichzeitig präzisere mediale Entsprechung finden; ganz zu schweigen von den Vorteilen echtzeitnaher Aktualisierung. Die Buchform wird weiter (noch) interessant bleiben für die adäquate Publikation nicht ganz linearer und unschärferer Inhalte, auch für die Abbildung hochwertiger Fotografien und von Kunst, allgemein auch als Sammel- und Nutzgegenstand für Liebhaber, welche die Feinheiten des Objekts Buch sowohl in Bezug auf die Wahrnehmung als auch auf die intuitive Handhabung, die Unmittelbarkeit des Zugangs und die hermetische Abgeschlossenheit des Mediums – zeitlich wie räumlich – schätzen. Parallelen zum Untergang und doch Überleben der LP stellen sich ein. ge
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Kategorien: Designeralltag Kommunikationsdesign